(English version further down)
Prof. Monika SALZBRUNN
Antragstellerin und Projektleiterin
Farida Souiah
Senior FNS-Forscher
Simon Mastrangelo
FNS-Doktorand
1. Zusammenfassung
Das Vorhaben widmet sich undokumentierter Mobilität im Kontext der jüngsten Umbrüche in Tunesien. Auch nach den Ereignissen des "Arabischen Frühlings" und den Forderungen nach Demokratie, Würde und Freiheit ist das Verlangen junger Männer ungebrochen, ihre ‚Papiere zu verbrennen’ (Harga, heisst ‚brennen’, ‚seine ‚Papiere verbrennen’, die Harragas sind diejenigen, die ‚brennen’, ihre Papiere verbrennen) und sich ‚illegal’ über das Mittelmeer auf den Weg nach Europa zu machen. So ist im Jahre 2011 die Zahl der Asylgesuche in der Schweiz „um rund 45 Prozent gestiegen” und war, nach Eritrea, das “wichtigstes Herkunftsland” Tunesien, wie das Bundesamt für Migration (2012a:3) feststellt.
Die Untersuchung versteht undokumentierte Mobilität als Prozess, der nicht nur ökonomische Aspekte umfasst, sondern soziale, generationale, politische, religiöse, kulturelle und gender-Aspekte einschließt. An der Schnittstelle zwischen Anthropologie, Soziologie und Kulturwissenschaft wird das Forschungsprojekt drei zentrale Forschungsfragen in den Blick nehmen:
- Wie wird die (derzeitige) alltägliche Realität in Tunesien von den Harragas, also den Akteuren selbst verhandelt? Welche Lebensentwürfe und Vorstellungen vom ‚guten Leben’ werden dort entwickelt?
- Welche Rolle spielen tunesische Communities und Netzwerke von sans-papiers in der Schweiz in der Aushandlung, Schaffung und Repräsentation dieser Realitäten? Und, eng daran gebunden,
- wie werden kulturellen Ressourcen und digitale Medien genutzt, um sich über die gegenwärtige Situation in Tunesien und in der Schweiz zu verständigen? Welche Rolle spielen diese auf dem Weg nach Europa, in die Schweiz?
In interdisziplinärer Perspektive sollen also die Handlungsoptionen der Akteure in den Blick genommen werden, die jedoch auch und gerade
- die soziale Imagination abbilden und auf digitale, transkulturelle Ressourcen zurückgreifen. Diese artikulieren sich mittlerweile besonders
- in digitalen Medien (Blogs, Social Networks, YouTube) und schaffen einen transnationalen öffentlichen Raum, in dem die individuelle und gesellschaftliche Situation verhandelt wird.
Die Ziele des Projektes richten sich also zum einen auf ein Verständnis der Praktiken undokumentierter Migration (Harga) in Tunesien im Kontext der Umbrüche des ‚Arabischen Frühlings’ und den Ansprüchen an die Veränderung der soziopolitischen Lage. Zum anderen sollen auch und gerade die transnationalen sozialen Imaginationsräume, die kulturellen Produktionen, Symbolisierungen in den digitalen Medien analysiert werden, die diese mittlerweile auch artikulieren und damit zur alltäglichen Schaffung eines öffentlichen Raumes der Aushandlung und Verständigung über die gemeinsame Lage beitragen. Der Fokus liegt somit auf den kulturellen Aspekten von Harga und den diskursiven, semantischen und imaginären Artikulationen dieser transnational vernetzten Mobilitätsprojekte.
Um diese Forschungsfragen zu beantworten, wird sich das Projekt in drei Work-Packages (WP) entwickeln und sich methodisch auf eine ‚multi-sited ethnography’ in Tunesien und den Metropololen der Schweiz stützen (WP1/2), induktiv verfahren und sich auf ethnographische Methoden verlassen können. Neben der ‚teilnehmender Beobachtung’ an von den Akteuren bestimmten, unterschiedlichen Orten werden weitere qualitative Methoden (offene und biographische Interviews, mental maps) der Beantwortung der Forschungsfragen dienen. Da das Internet zu einem Ort der Aushandlung geworden ist, wird eine der zentralen Methoden des Forschungsdesigns eine ‚Digitale Anthropologie’ darstellen (WP3). Durch die Einbeziehung dieser, in Migrationsstudien bislang noch weitgehend vernachlässigten Dimension leistet das Projekt einen aktuellen, innovativen Beitrag zur transnationalen Migrationsforschung im Kontext der Transformationen des euro-mediterranen Raumes.
Undocumented Mobility (Tunisia-Switzerland) and Digital-Cultural Resources after the ,Arab Spring'
Principal Investigator and Project Leader
Prof. Dr. Monika SALZBRUNN
Senior Researcher FNS
Farida Souiah
Doctoral student FNS
Simon Mastrangelo
Lead
The research envisions undocumented mobility (Harga) from Tunisia to Europe (Switzerland) after the ‚Arab Spring’ and its ongoing demands for democracy, dignity and liberty. Connecting the transnational, social imaginaire, cultural productions, symbolizations in digital media, the project offers a highly innovative approach to the research of mobilities and transnational migration studies in the context of the current transformations in Mena-countries and the Euromediterranean space.
Lay Summary
The research engages undocumented mobility in the context of recent developments in Tunisia. Even after the events of the “Arab Spring” and its demands for dignity and liberty, the desire of young men (harragas) to “burn their papers” (harga), to leave their country of first citizenship and to reach Europe is still persistent. Such a desire to escape overall circumstances however cannot be reduced to merely economical motives. Undocumented mobility is by no means a one-dimensional, single-layered process governed by “push-and-pull factors”, but reflects the transnational social imaginaire and its various cultural resources (such as music and videos) as well.
New media such as social networks, blogs, YouTube etc. and its mobile symbolizations, sounds and images contribute to disseminate mobilization, dissent and disagreement, creating a transnational socio-cultural space and public spheres in which the current (and past) situation is negotiated and contested. Based on ethnographical fieldwork in Tunisia and Switzerland, as well as on digital anthropology of social networks, blogs, the research project envisions the increasingly important role of these spaces and thus, contributes to a fresh and innovative approach that relates undocumented mobility, (political) mobilization, transnational practices and the social imaginaire. As such, it aims to disseminate its insights and to contribute not only to academic discourse but to broader public discussions as well.